Auf überfordernde, stressige und überwältigende Ereignisse und Gefahr reagiert unser Stammhirn, auch „Reptilienhirn“ genannt. Das ist der älteste Teil unseres Gehirns, in dem das limbische System sitzt, das für Gefühle verantwortlich ist.
In Sekundenbruchteilen greift der sogenannte Fight / Flight / Freeze Reflex, unser Nervensystem schaltet auf Kampf, Flucht oder Erstarren. Wenn nichts mehr geht, dissoziieren wir, das heißt, wir koppeln uns vom Geschehenen ab und verschwinden in einer Art Dämmer- oder Nebelzustand. In diesem können wir nicht mehr wirklich präsent sein und die Gefühle und der Kontakt zu uns und anderen sind abgeschnitten. Tiere können im Gegensatz zu Menschen diesen Zustand komplett wieder verlassen, wenn die Gefahr vorüber ist, ohne dass dies Folgen hat. Ein Opossum verfällt bei einem Angriff in Totenstarre, schüttelt sich dann kurz und ist wieder voll da. Wir Menschen bleiben oft in Teilen im Kampf, in der Flucht oder im Freeze stecken und im Körper bleiben Spuren zurück.
Zwar können wir unsere Reaktionen meist unterdrücken oder bremsen, aber sie laufen trotzdem -meist unbewußt- ab. So macht sich unser Kiefer bereit zu beißen, unsere Hände machen sich bereit zu kämpfen oder abzuwehren, die Füße zu rennen oder zu treten.
Handelt es sich um einzelne schockierende Ereignisse, sprechen wir von Schocktrauma. Schock ist zu viel, zu schnell und zu heftig. Der Körper wurde im Schock in seiner Kampf- oder Fluchtbewegung unterbrochen. In sicherer Begleitung verlangsamen wir die Bewegung. Dadurch kann der Körper diese Bewegungen ausführen bzw. zu Ende bringen, ohne dass wir von den Emotionen überwältigt werden. Damit kann sich die darin gespeicherte Energie entladen und steht uns dann wieder im Leben zur Verfügung.
Wachsen wir in einer Atmosphäre auf, die nicht liebevoll, gehalten, respektvoll und schützend ist, sondern durch Vernachlässigung, Überfrachtung mit den Gefühlen der Eltern, Chaos oder rigide Strukturen, physische und psychische Gewalt und Enge gekennzeichnet ist, führt das zu bestimmten Mustern und Persönlichkeitsstrukturen. Hier sprechen wir von Entwicklungstrauma. Je nach Lebensphase, in der prägende Ereignisse stattfinden und wir unseren Bindungserfahrungen mit den engsten Bezugspersonen machen, bilden wir unterschiedliche Charakterstrukturen sowie Bindungsmuster aus. (Typ A: unsicher vermeidende Bindung, Typ B: die sichere Bindung, Typ C: die unsicher-ambivalente Bindung, Typ D: die desorganisierte Bindung). Diese Entwicklungstraumata wirken sich langfristig auf die Gehirnstruktur aus und verändern diese.
Kommt Stress und Aktivierung ins Systhem, poppen alte Erinnerungen auf und alte Überlebensmechanismen übernehmen die Führung. Sie haben uns damals buchstäblich überleben lassen. Heute aber stehen sie uns manchmal im Wege und belasten den Alltag und den Kontakt zu anderen Menschen.
Irgendeine Verhaltensweise unseres Partners erinnert uns unbewusst an früher und unser System spielt den alten Überlebensreflex durch: Rückzug, Angriff, Erstarrung, Panik, Kälte… Das Wissen, dass unser System bei Aktivierung, die noch nicht haltbar ist, aus den Fugen gerät und überreagiert, kann hilfreich sein. Ich kann erkennen, daß meine Empfindungen von Todesangst oder Bedrohung ins „dort und damals“ gehören. Hier und heute darf ich Bedürfnisse und Grenzen verhandeln und es ist nicht mehr lebensbedrohlich. Diese Erkenntnis macht einen Ausstieg aus dem Drama möglich. Wir entwickeln außerdem einen inneren Beobachter und bekommen dadurch Abstand zur Situation und haben andere Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung.
Vor und nach der Geburt bis hin zum 3. Lebensjahr haben wir keinerlei Möglichkeiten, uns bewusst an Geschehnisse zu erinnern, dennoch sind gerade diese frühesten Jahre für uns die prägendsten. Hier wird unser Bindungsverhalten angelegt, unsere Fähigkeiten zur Selbstregulation ausgebildet, die Grundsteine für unser Selbst gelegt.
Wir werden geboren und sind als kleine, zarte, verletzliche Wesen auf die Co-Regulation unserer Eltern angewiesen. Wir können uns noch nicht selbst beruhigen und brauchen neben der Beruhigung durch die Bezugspersonen auch lebendige Anregung. Unser Nervensystem ist noch nicht voll ausgebildet. Bis zum Alter von ca. 12 Jahren können wir unsere Emotionen noch nicht selbst halten, wir brauchen auch da die Erfahrung, von den Bezugspersonen gehalten und angenommen zu werden mit all unseren tiefen Gefühlen. Müssen wir diese sehr früh schon unterdrücken oder führen diese zu Abwertung, Beschämung oder Überforderung bei den nahen Menschen, hat das fatale Folgen auf unser späteres Sein und auf unsere Beziehungen.
In der bindungsorientierten Traumatherapie geht es darum, diese alten Erfahrungen im Hier und Jetzt im Körper fühlbar zu machen und quasi neu zu verhandeln, also im heute eine positive Erfahrung zu machen. Diese neuen, positiven Bindungserfahrungen formen das Gehirn neu. Heute weiß die Wissenschaft, dass das Gehirn bis ins hohe Alter formbar ist. Wir können alte Autobahnen verlassen und neue Wege ebnen, anders reagieren lernen als in unseren leider oft ungesunden Mustern zu laufen. Alte Versuche der Selbstberuhigung z.B. durch Essen, Serien gucken, Arbeiten, Rauchen, Wegschlafen, dauernd in Bewegung sein, etc. können nach und nach ersetzt und überschrieben werden, wenn wir erfahren dürfen, wie es ist, alle Gefühle haben zu dürfen, sie im Körper zu spüren und zu halten und ein Gegenüber zu haben, was uns damit nicht nur „aushält“ sondern liebevoll begleitet und reguliert.
Leider ist Entwicklungstrauma heute sehr weit verbreitet. Dysregulation, ein eingeschränktes Verhaltensrepertoire und Gefühle der Ungebundenheit mit sich selbst und anderen werden oft schon als normal bewertet. Überhaupt bewegen wir uns gesellschaftlich seit langem in Richtung einer distanzierten und unverbundenen Kopfkultur.